Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2024: Forum

„Die Vergangenheit hört nie auf, Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen“

Der US-amerikanische Historiker David Nirenberg erhält den Dr. Leopold Lucas-Preis 2024

Professor David Nirenberg ist Mediävist und Historiker, der die miteinander verwobene Geschichte von Christen, Juden und Muslimen erforscht. Er ist der 10. Direktor des Institute for Advanced Study (IAS), eines führenden Zentrums für theoretische Forschung in den Natur- und Geisteswissenschaften in Princeton, New Jersey. Nirenberg studierte an den Universitäten Yale und Princeton und war in verschiedenen Positionen an der University of Chicago tätig, unter anderem als Dekan der renommierten Divinity School.

Nirenberg untersucht die sozialen Interaktionen zwischen den Angehörigen der drei großen monotheistischen Religionen; die unterschiedliche Art und Weise, in der die verschiedenen religiösen Traditionen im Denken der jeweils anderen eine Rolle gespielt haben; sowie die Frage, wie Gewalt die Möglichkeiten der Koexistenz geprägt hat. Indem er diese Phänomene rational erklärt und in politische und wirtschaftliche Zusammenhänge stellt, zeigt Nirenberg Wege für ein friedliches Zusammenleben der Religionen auf. Dafür verleiht ihm die Evangelisch-Theologische Fakultät am 14. Mai 2024 im Namen der Universität Tübingen den Dr. Leopold Lucas-Preis.

„The past never ceases to exert influence on the present“ (English version)

Herr Professor Nirenberg, haben Sie eine persönliche Verbindung zu Tübingen?

Der Großvater meiner Frau war Professor in Tübingen – er hieß Antonio Tovar – und als Kind verbrachte sie oft den Sommer dort. Und natürlich ist Tübingen ein bekannter Ort für jeden, der sich für Religion, Philosophie oder für die deutsche Kultur interessiert. Und ich kenne auch die Rektorin der Universität Tübingen, Professorin Dr. Dr. h.c. (Dōshisha) Karla Pollmann, die hier am IAS Mitglied war.

Das Institute for Advanced Study (IAS) ist selbst mit Tübingen verbunden, da viele deutsche Exilanten, Flüchtlinge und Wissenschaftler zur Gründergeneration des Instituts gehörten. Diese Verbindungen möchte ich weiter ausbauen. In einer Zeit starker geopolitischer Zersplitterung in der Welt halte ich die Beziehungen zwischen Instituten wie dem IAS und Universitäten wie der Universität Tübingen für umso wichtiger.

Besagter Antonio Tovar war selbst ein Exilant aus Spanien, der Zuflucht in Tübingen fand. Institutionen wie die unseren haben die Verantwortung, die Mobilität von Wissenschaftlern in der ganzen Welt zu unterstützen und Raum für Menschen mit Talent zu schaffen, egal woher sie kommen.

Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Arbeit.

In meiner Arbeit geht es immer darum, aufzuzeigen, wie jeder, der in das Christentum, den Islam oder das Judentum – oder in eine der von diesen Traditionen abstammenden Kulturen – hineingeboren wird, in Konzepten, Kategorien, Idealen und Vorurteilen denkt, die durch das Zusammenspiel dieser drei Religionen geprägt wurden. Das gilt auch für unsere säkulare Welt, denn viele säkulare Bewegungen sind aus diesen drei Religionen hervorgegangen. Denken Sie beispielsweise an den Deutschen Idealismus, den Marxismus oder die Ba’ath-Bewegung in der arabischen Welt.  

Durch die Geschichte dieser Religionen und auch durch die Geschichte unserer modernen Welt hindurch – und zwar in jedem Moment, auch wenn wir es nicht wissen – wird unser Denken über die Welt und über unsere gegenwärtige Situation durch Denkgewohnheiten mitgeprägt, die von diesen Religionen geformt wurden. Das ist etwas, was ich immer zu zeigen versuche.

Wie definieren Sie Antijudaismus?

Antijudaismus ist ein Denkmuster, das sich entwickelt hat, bei dem alle Herausforderungen dieser Welt in einen Kontext zum Judentum gesetzt werden. Und wer sich mit dieser Denkart den Herausforderungen stellen und sie überwinden will, setzt das gleich mit der Überwindung des Judentums. Und das ist so, weil sich sowohl das Christentum wie auch der Islam in einer Beziehung zur älteren israelitischen Tradition sehen, aber in einer Beziehung der Abgrenzung und der Überlegenheit – was bedeutet, dass ihre Rolle darin bestand, die wahre Lehre – die das Judentum entweder nicht sehen konnte oder absichtlich verfälscht hatte – richtig zu verstehen und diese zu erneuern oder wiederherzustellen.

Diese Religionen, die das Sammelbecken unserer Wertvorstellungen darstellen, haben den Antijudaismus tief in sich verankert. Ich habe unter anderem versucht zu zeigen, dass sowohl in christlichen als auch in muslimischen sektiererischen Kämpfen alle Seiten die jeweils andere Partei – die, die sie auszugrenzen oder als Ketzer darzustellen versuchen – als Juden bezeichnen. So haben die Sunniten – in frühen islamischen Zeiten – gesagt, die Schiiten seien die Juden unserer Gemeinschaft. Und in ähnlicher Weise versuchen die Schiiten – wie man in der gegenwärtigen Politik sehen kann – sunnitische Politiker als Verbündete der Juden darzustellen. Sogar innerhalb eines politischen Systems, etwa während des Bürgerkriegs in Syrien, stellen sich einzelne Gruppen als Vertreter der reinen Lehre und ihre Rivalen als Verbündete der Juden dar.

Solche Argumente als Waffe in innermuslimischen und innerchristlichen Kämpfen sowie in Kämpfen zwischen scheinbar säkularen Gruppen sind das, was den Antijudaismus in so vielen verschiedenen Epochen der Geschichte so nützlich gemacht hat.

Werden wir die Konflikte von heute anders sehen, wenn wir in zehn, 50 oder 100 Jahren zurückblicken?

Das werden wir, dessen bin ich mir sicher. In den 1930er-Jahren zum Beispiel glaubten viele Menschen, dass die Juden das größte Problem Europas seien und dass die Überwindung der Bedrohung durch das Judentum die größte Aufgabe sei, die es zu bewältigen gab. Aus der Sicht der Nationalsozialisten waren der Marxismus und der liberale Kapitalismus jüdisch; aus der Sicht vieler Marxisten war der Kapitalismus jüdisch; egal, aus welcher Richtung man kam, es war für viele Menschen plausibel, dass die Juden die größte Bedrohung für ihre Gesellschaften darstellten und dass die Überwindung des Judentums das war, was sie tun mussten. Und weil es plausibel war, konnten so viele Menschen überzeugt werden, die Vernichtung der Juden durchzuführen.

Zehn, 50 und heute, fast 100 Jahre später, würden nur sehr wenige Menschen zustimmen, dass die Juden damals wirklich die größte Bedrohung für Europa waren. Heute können wir erkennen, dass das, was den Menschen damals als dringende Realität erschien, in Wirklichkeit das Produkt einer vorurteilsbehafteten Weltanschauung war, die zutiefst vom Antijudaismus geprägt war. Ich bin mir sicher, dass dieses Prinzip auch für die Gegenwart gilt: Was immer unsere Gewissheiten heute sind, aus der Perspektive der Zukunft werden sie anders aussehen.

Aber natürlich hört dieser Prozess nie auf. So wie in den 1960er- und 1970er-Jahren die meisten Historiker zu der Überzeugung gelangten, dass das Dritte Reich und der europäische Antisemitismus der 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre nicht die Realität, die Macht der Juden, sondern die Macht der Vorurteile widerspiegelte, so ist es möglich, dass die Menschen in irgendeiner Zukunft wieder zu der Überzeugung gelangen, dass die Juden in Wirklichkeit die Quelle der Unordnung in der Welt sind. Deshalb halte ich die Arbeit der Geschichtsforschung für so wichtig. Die Vergangenheit hört nie auf, Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen. Und deshalb ist die Aufgabe, unsere Überzeugungen in der Gegenwart der Kritik der Vergangenheit zu unterwerfen, niemals zu Ende.

Das ist eines der Dinge, die mich an Leopold Lucas so bewegen: Er hat sein Leben dem Nachdenken über die Beziehungen zwischen den Religionen gewidmet und darüber, wie diese die Geschichte prägen und wie dieses Geschichtsverständnis seine damalige Welt beeinflussen könnte. Er glaubte, dass ein anderes Geschichtsverständnis einen Unterschied für seine Gegenwart bewirken würde. Deshalb war er in der Bewegung "Wissenschaft des Judentums" so aktiv. Deshalb lehrte er Geschichte und ging 1941 nach Berlin, um Geschichte zu unterrichten, und deshalb arbeitete er mit Leo Baeck an einer Geschichte der Juden in Europa, die Europa nach der erhofften Niederlage der Nazis neu informieren könnte. Diese Niederlage hat er nicht mehr erlebt. Aber ich kann mir vorstellen, dass er 1890 ganz anders über den Sinn und die Möglichkeiten der Geschichte dachte als 1943, als er in Theresienstadt starb. Wir müssen nicht zehn, 50 oder 100 Jahre warten. Selbst im Leben eines einzelnen Menschen kann sich der Blick auf die Geschichte stark verändern.

Das Interview führte Amanda Crain